Ohne Rebellion keine Freiheit!

„Sag mir also, ob du die Wohnstatt des Fürsten der Finsternis bist. Sag es mir...sag es mir Ozean!“ Lautréamont           

Mit seinem neuen, in der Reihe „kritik & utopie“ (www.kritikundutopie.net) des Mandelbaum Verlages erschienenen Werk „Gesetzlose des Atlantiks“ räumt der US- amerikanische Historiker Marcus Rediker mit manchem Vorurteil über Piraten und den „Seebären“ genannten rebellischen Matrosen des frühen 18. Jahrhunderts auf und zeigt dabei, wie wesentlich die Vielzahl ihrer Revolten etwa für die amerikanische Revolution oder die Beendigung des transatlantischen Sklavenhandels waren.

Piraten, das sind und waren (See)Räuber und dennoch keine Egoisten, sie teilten die Beute und sorgten für Verletzte und Kampfunfähige. Oft waren sie zuerst Matrosen auf Handels- oder Kriegsschiffen und unterlagen brutalen, unwürdigen Bedingungen. „Dass sie dabei zuweilen ihrerseits brutal handelten zeigt, dass sie sich nicht aus dem System befreien konnten, von dem sie ein Teil waren“ (Rediker, S. 131).  Aber selten geschahen Gewalttaten wahllos, eroberten sie ein Schiff, dann ließen sie in der Regel die Kapitäne und Offiziere am Leben, für die deren Mannschaften ein Wort einlegten.

Dennoch ist es klar, dass sie oft grausam handelten. Sähe man die Taten der Piraten losgelöst von den extrem gewaltsamen Verhältnissen, aus denen sie flohen und ohne den Blick auf die hierarchischen Gesellschaften, die sie in eine fremde Welt ausspuckten, dann würde man für sie sicher keine Sympathie aufbringen. Mord, mitunter Folter, Schlägereien, besinnungslose Besäufnisse zeigen, dass sie insgesamt keine humanere Welt erschaffen konnten, als die, der sie den Krieg erklärt hatten. Da sie fast alle Männer waren, konnten sie nicht anders, als anstatt Gemeinden mit Frauen und Kindern eine „Bruderschaft“ der Küste, einen reinen Männerbund, zu gründen, in welchem neben humanem Handeln untereinander, alle Auswüchse des Männlichkeitswahns zu finden waren. Dennoch, was fasziniert, ist ihr Widerstand gegen Herrschaft, ihr bedingungsloses „Nein“ sich versklaven zu lassen, ihr Anspruch, selber über ihr Leben zu bestimmen. Vor allem ist da ihr Wille gleich zu teilen, im anderen den Bruder zu sehen, nicht den Herrn oder Knecht. Da sie ihre ganze Existenz in diese Freiheit warfen und Plantagenbesitzer und Kapitäne auf diese Haltung nur mit Ermordung und Folter antworteten, kann man ihnen meiner Meinung nach schlecht vorwerfen, nicht gewaltlos rebelliert zu haben, wenn dies gar nicht möglich war. Denn wie sähe ihre Welt aus, hätten sie nicht rebelliert? Wie angedeutet, sind es auch ihre Verbindungen zu widerständigen Matrosen und Pöbel in den Hafenstädten, die zuerst den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, dann die Französische Revolution inspirierten, die, wenn auch nicht das Ende von Herrschaft insgesamt, so doch das Ende von Absolutismus und Feudalherrschaft einläuteten. Vielleicht auch deshalb sind Piraten das Lieblingsthema Redikers, der sich wie wenige andere der „Geschichte von unten“ widmete und der für seinen mitreißenden Schreibstil, aber auch für die Faktengenauigkeit und Sorgfalt seiner seit den 1980 iger Jahren publizierten Bücher vielfach ausgezeichnet wurde. Zwar mag es auf den ersten Blick überraschen, dass der Autor nach seinem gemeinsam mit Peter Linebaugh geschriebenen Standardwerk „Die vielköpfige Hydra“ noch immer etwas Neues über die Rebellen auf See zu sagen hat. Aber „Gesetzlose des Atlantiks“ ist denn auch eher eine Fortsetzung und Vertiefung der „Vielköpfigen Hydra“, (auf Deutsch erschienen bei Assoziation A), die ja vor allem die Geschichte der Bukaniere etwa auf Tortuga aufgreift, und setzt einige Jahrzehnte später an. Hier geht es eher um die klassischen Piraten, die in der Regel nicht mehr auf kleinen Schaluppen, sondern auf größeren, kanonenbewaffneten Schiffen mit etwa 125 Mann Besatzung fuhren und die, besonders ab dem zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, mit einer wahren Armee von mehreren tausend Männern, (zwar jeweils autonom, aber untereinander Kontakt aufnehmend) zum Schrecken aller Handelsherren werden sollten. Ihre Kaperfahrten rührten jedoch auch aus einer eigenen sozialen Welt, die von Beginn an fragil war. „Sie produzierten nichts und verfügten über keinen sicheren Platz innerhalb der Wirtschaftsordnung. (...) Sie waren nicht in der Lage, zuverlässige Verfahren zu entwickeln, um ihre eigenen Reihen aufzustocken oder ihre kollektive Macht zu mobilisieren. Die Defizite ihrer sozialen Organisierung machten sie langfristig für den Angriff des imperialen Staates anfällig“ (S. 148).

Gesetzlos sind Piraten, die meist unter der schwarzen Fahne des Todes segelten, übrigens nur in Hinsicht auf die Ordnung ihrer Zeit, sie selbst geben sich neue Regeln: „In ihren Räten versammelten sich alle Mann an Bord, um zu besprechen, wo die besten Beutegelegenheiten zu finden und wie störende Zwistigkeiten zu beseitigen seien. Manche Crews machten laufend vom Rat Gebrauch und „beschlossen sämtliche Angelegenheiten nach dem Mehrheitsprinzip“, andere begriffen den Rat als Gericht.“

Die meisten von ihnen waren zuvor Seeleute gewesen und obwohl ein Ende ihrer Piratenlaufbahn am Galgen sehr viel wahrscheinlicher war, als die Aussicht, sich später irgendwo zur Ruhe setzen zu können, alleine zwischen 1716 und 1726 wurden etwa 600 atlantische Piraten hingerichtet, gingen die Männer wie gesagt dieses Risiko bewusst ein. Sie verabscheuten die Bedingungen für Arbeiter auf See, etwa die Zwangsrekrutierung. Auch Edward Barlow (1642-1706) einer der wenigen „Seebären“ jener Zeit, der seine Erfahrungen aufschrieb, wendet sich gegen die Entführung aus den Häfen auf die Schiffe der Kriegs- und Handelsmarine:  „Manch „armer Mann“ verlor, so er gepresst wurde, „seine Truhe, seine Kleidung und mehrere Monatslöhne“, was für ihn alles wertvoller sei als „was er über zwölf Monate wieder einnehmen kann, angesichts seines niedrigen Lohns und der Ungewissheit, ob man ihm diesen Lohn überhaupt auszahlen wird.““

Es ist also kein Wunder, dass sich viele Matrosen gekaperter Schiffe den Räubern anschlossen, anstatt gegen sie zu kämpfen. Sicher, man kann Piraten, deren Zusammenschluss auf Beutemachen ausgerichtet war und ist, nicht „antikapitalistisch“ nennen. Doch ihr vordringlichstes Ziel war es nicht, reich zu werden, sondern lediglich in Freiheit zu überleben, mit der Betonung auf Freiheit. Piraten, die sich am Sklavenhandel beteiligten (auch das gab es) waren die Ausnahme, meist richteten sich ihre Schiffsbesatzungen eben gegen jede Herrschaft. Ein stetiger Anteil ihrer Crew waren entflohene oder befreite afrikanische Sklaven.

Obwohl in Redikers neuem Buch die meisten Kapitel bereits als Vorträge oder Aufsätze veröffentlicht wurden, ist hier - da überarbeitet und umgeschrieben - ein schlüssiges, sehr lebendiges Werk entstanden, das zu fesseln und begeistern vermag. Übersetzt von Max Henninger und Sabine Bartels (Kapitel 5, „ein buntscheckiger Haufen in der amerikanischen Revolution“), liest es sich spannend wie ein guter Roman. Lediglich über die Beziehungen der Piraten und Seeleute an Land (auch zu Frauen) wird hier wenig berichtet, da muss man sich eher an die anderen Bücher Redikers halten. Doch ansonsten kann dank seiner Klarheit und Tiefe „Gesetzlose des Atlantiks“ mit seinen aussagekräftigen Skizzen und Zeichnungen für Jugendliche und junge Erwachsene an Schulen und Universitäten wertvoll sein, wird hier doch unter Quellenangaben eindringlich geschildert, wie Sklaverei und Kapitalismus entstehen und funktionieren. Da der Autor aber eingehend den - oft verzweifelten, aber immer mal wieder erfolgreichen - Widerstand gegen die Ausbeutung beschreibt, macht seine Schilderung alles andere als mutlos. Zumal er mit dem Aufstand der „schwarzen Piraten“ 1839 auf dem Schiff „Amistad“ endet, der den entführten Afrikanern die Freiheit brachte, ein entscheidender Schritt zur Abschaffung der Sklaverei in den USA. Erstmals solidarisierte sich hier sogar ein großer Teil der amerikanischen Presse und Öffentlichkeit mit rebellischen Sklaven.

Außerdem vermittelt Rediker in treffsicherer Nüchternheit die Liebe zum Meer und zur Seefahrt, so dass neben jenen Vielen, die auch heutzutage in einem verborgenen Winkel ihres Herzens lieber Piraten wären, als hinter ihren Schreibtischen zu sitzen, sich auch moderne Seebären, Liebhaber von Seemannsgarn und sonstige „Schipperslüü“ angesprochen fühlen dürfen. Ihnen allen wird zugerufen: „Nich tüdeln, - Sklavenhändler entern!“

 

 

 

Erschienen in derGraswurzelrevolution GWR423 November 2017

 

Marcus Rediker: „Gesetzlose des Atlantiks, Piraten und rebellische Seeleute in der frühen Neuzeit“ übersetzt von Max Henninger, Mandelbaum Verlag Wien, 310 Seiten

ISBN 978385476-664-3, 18.00 €

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Text und Fotos by Oliver Steinke, alle Rechte vorbehalten!