Rezension "Kerkerjahre"

Als Geiseln der uruguayischen Militärdiktatur

 

 

In „Kerkerjahre“ schildern zwei frühere Stadtguerilleros der Tupamaros in Uruguay, nämlich der Schriftsteller Mauricio Rosencof und der spätere Verteidigungsminister Fernández Huidobro, genannt „El Ñato“, „Der Stupsnasige“, elfeinhalb Jahre als Geiseln der uruguayischen Militärdiktatur (1973-1985).

 

Tupac Amaru, die „Leuchtende Schlange“ gab es zweimal: Zum einen war er der letzte Priesterkönig der Inka (1545-1572) im heutigen Peru, der vor seiner Enthauptung in Cusco durch die Henker der spanischen Eroberer seine Wiedergeburt ankündigte. Tatsächlich führte dann 1780 Tupac Amaru II (1738-1781) einen Aufstand gegen die spanische Oberschicht. Auf ihn berufen sich seitdem vor allem marxistische Befreiungsbewegungen, nach ihm ist auch der Rapper Tupac Shakur benannt.

 

Im Geist der Revolte griff die „Nationale Befreiungsbewegung“ – „Movimiento de Liberación Nacional – MLN Tupamaros“ in Uruguay mit einem Überfall auf einen Schießclub im Juli 1963 zu den Waffen, wollte sich so gegen die strukturelle Gewalt der herrschenden Klassen wehren. Bis zu ihrer militärischen Zerschlagung 1972 galten die Tupamaros als die erfolgreichste Stadtguerilla Amerikas, es gab Nachahmer selbst in Westdeutschland. Besondere Zustimmung fanden ihre frühen „Robin Hood Aktionen“, z.B. das Kapern von Lebensmittellastwagen und die Verteilung der Lieferungen in den ärmeren Stadtteilen Montevideos. Ab 1968 ließen sich die Tupamaros auf eine militärische Eskalation ein, es gab Tote auf beiden Seiten, mit der Ermordung des CIA-Folterspezialisten Daniel Mitrione (10.8.1970) beteiligten sie sich an der Gewaltspirale. Mit Landbesetzungen und bewaffneten Aktionen wie Banküberfällen, Entführungen, Attentaten und spektakulären Massenausbrüchen aus den Gefängnissen machten sie Schlagzeilen, waren in ihrer Hochphase fähig, Städte wie Pando 1969 zu besetzen. Der Spiegel berichtete im August 1970 verklärend von den „100 Samurai“ als den inneren Kern der MNL Tupamaros, doch der Staat, den sie bekämpften, verwandelte sich nun rasch von einer bürgerlichen Demokratie in eine Militärdiktatur. Gemessen an den geringeren Opferzahlen (etwa 200 Tote, die meisten in Argentinien getötet) wirkt die Diktatur in Uruguay (1973-1985) für einige vielleicht weniger schrecklich als etwa die in Chile (1973-1990) oder im benachbarten Argentinien (1976 bis 1983), dort allein waren es etwa 30.000 Ermordete. Aber „Kerkerjahre“ macht deutlich, dass sich auch hier faschistische Gewalt austobte. Folter wurde zur Regel. Um die Aktionen der Tupamaros zu stoppen wurden zudem die bekanntesten Aktivistinnen und Aktivisten Männer zu Geiseln.

 

Einige wurden in Dreiergruppen aufgeteilt und in „unbekannten Orten“, meist in Militärkasernen, gefangen gehalten und regelmäßig verlegt. Schon im Gefängnis gelang es Rosencof, Huidobro und José „Pepe“ Mujica den Kontakt durch leises Klopfen eines eigens erfundenen Morsealphabets aufrechtzuerhalten, über Jahre hinweg die einzig mögliche Kommunikation, waren die Gefangenen doch sonst zum Schweigen gezwungen. „Ein großer Teil dieser Erzählung müsste totales, absolutes Schweigen sein; das bestimmende Merkmal dieser langen Zeit ist die totale, absolute Stille, das NICHTS, dass nichts geschieht. (...) Nur die Zeit verging langsam wie dickflüssiger Sirup.“ In der Gefangenschaft schienen selbst die physikalischen Gesetze außer Kraft gesetzt: „Die Sonne geht dort nicht im Osten auf. Sie geht durch ein kleines Loch auf, wenn sie überhaupt aufgeht ... Dort regnet es durch undichte Stellen im Dach ... Und der Frühling wird durch die Schmeißfliegen angekündigt.“ Die Gefangenen leben also wie „Efeu an der Mauer“, so der Titel der vergriffenen deutschsprachigen Vorgängerausgabe von 1990.

 

Nur wird die Isolationsfolter und die Folter, Wochen und Monate gefesselt auf dem kalten Boden sitzen zu müssen, die Folter, hungern zu müssen, die Folter des Fehlens jeglicher Hygiene und Beschäftigung zusätzlich durch die Folter roher Gewalt unterbrochen: Schläge; Tritte, das Fast-Ertränken im Wasserbecken, Verbrennungen oder Elektrostöße bei Verhören. In den Kerkern gibt es Tote und Verschwundene.

 

Pepe Mujica, der spätere Präsident Uruguays, kämpft um eine rosafarbene Plastikschüssel, einbitteres, aber auch tragisch komisches Element, das sich über Jahre hinzieht. Denn den Gefangenen werden auf einigen ihrer Leidensstationen sogar Behälter für die Toilette verweigert. Pepe aber erkämpft sich in einem günstigen Moment einen Pisspott und klammert sich bei jeder weiteren Verschleppung an ihn. Als er schließlich freikommt, trägt er seine rosa Schüssel stolz unter dem Arm; da im letzten Jahr der Gefangenschaft die Bedingungen schrittweise humaner geworden waren, hatte er darin Ringelblumen pflanzen können, die in diesem Moment gerade blühen. Pepe Mujica, von Antonio de la Torre gespielt, ist auch die Hauptperson im vielfach ausgezeichneten Film des uruguayischen Regisseurs Alvaro Brechner „Compañeros. La nochede 12 años“ (2018), dessen Vorlage die Erinnerungen aus „Kerkerjahre“ sind. In gewisser Weise waren die Ringelblumen in der rosa Plastikschüssel für Mujica wegweisend: Denn er lebt nun auch während seiner eigenen Präsidentschaft (2010-2015) auf einen kleinen Bauernhof nahe der Hauptstadt als Blumenzüchter, immer an seiner Seite: Lucía Topolansky, die Compañera aus Jugendtagen, die ebenfalls gefangen und gefoltert wurde. 85 Prozent seiner Einkünfte als Präsident spendete er vor allem für den sozialen Wohnungsbau und andere Projekte, ein prestigeträchtiges Auto wollte er nicht, fuhr stattdessen privat seinen uralten VW-Käfer weiter. Ähnlich wie bei Südafrikas späterem Präsidenten Nelson Mandela (von August 1962 bis Februar 1990 vom Apartheitsregime gefangen), besteht die Größe dieser Männer auch in ihrem Verzicht auf Rache: „Da ist kein Groll, kein Wunsch nach Rache, kein Verlangen danach, die Übergriffe (...) zu werten, es (diese Erinnerung) ist vor allem ein Gesang auf das Leben.“

 

Dann, nach einer Ewigkeit kündigen einzelne Vorfälle das Ende der Diktatur an, so bleiben etwa bei Militärparaden die Türen in bestimmten Straßen, manchmal sogar die eines gesamten Dorfes, geschlossen, niemand jubelt den Soldaten im Stechschritt mehr zu. Durch die Rückverlegung der Geiseln in Gefängnisse 1984, die dort aufgeschnappten Gesprächsfetzen der Wachen und ihr verändertes Verhalten, keimt Hoffnung. Mauricio Rosencof gibt ihr damals in einem Gedicht so Ausdruck: „Der dickflüssige Wein der Abenddämmerung dringt durch mein Fenster. Und ich trinke und trinke bis zum Rausch und ertränke die Nacht, das Destillat des Nichts. Meine Zelle ist ein Ort weißer Trauben, ich keltere sie ohne Unterlass und die Gärung der Sonne verwandelt sie in berauschende Hoffnung.“ Als das oberste Gericht Uruguays nach dem Abtritt der Militärs und Neuwahlen über die Freilassung der Tupamaros tagt, versammeln sich vor den Gefängnissen Tausende, um für die angeblichen „Volksfeinde“ zu demonstrieren. Und es geschieht. Die lebendig Begrabenen kommen 1985 frei.

 

„Kerkerjahre“ kann eines nicht: Da die Erinnerungen bereits 1987 nach Tonbandaufnahmen niedergeschrieben wurden, können einige Fragen der Gegenwart keine Rolle spielen: Inwieweit sich die Politik der Tupamaros vom sozialen Umsturzversuch zur Sozialdemokratieverschieben musste oder konnte und ob dabei die pragmatische Praxis im linken Wahlbündnis Frente Amplio (Breite Front) überhaupt sozialistische Ziele erreichen kann. Oder auch, ob es nicht ganz andere ́, außerparlamentarische, gewaltfreie Strategien geben müsste, die für die Tupamaros zwar zur Diskussion standen, aber nach der Entscheidung, einen militärischen Apparat aufzubauen, nicht (mehr) angewandt wurden.

„Kerkerjahre“ greift auf eine andere Weise in die Tiefe: Selbst in den dunkelsten Stunden des Leids ist der menschliche Geist und Wille nie ganz, nie bei jedem zu brechen. Die Liebe zum Leben ist dann stärker als jede Gewalt.

 

Oliver Steinke

 

Rezension in Graswurzelrevolution 443

 

Rosencof/Fernández Huidobro: Kerkerjahre. Als Geiseln der uruguayischen Militärdiktatur. Aus dem Spanischen von Lydia Hantke, Assoziation A, Hamburg/Berlin 2019, 384 Seiten, 19,80 Euro, ISBN 978-3-86241-466-6

 

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Text und Fotos by Oliver Steinke, alle Rechte vorbehalten!